Reinhold Liesegang *6. Juni 1900 in Güsten war Sohn einer Arbeiter- und Sozialistenfamilie und eines von fünf Geschwistern. Seine Vorfahren stammten aus Appenrode. Von seiner Familie wurde er sozialistisch geprägt. Er wurde kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges zur Marine eingezogen. Nach dem Krieg war er Mitglied der „Roten Armee“, die in Braunschweig durch Stürmung des Schlosses den Herzog Ernst August von Braunschweig zwang abzudanken. Nach Austritt aus der Armee war er zunächst arbeitslos, danach in der Firma „Voigtländer“ als Schweißer tätig. Dort wurde er Mitglied einer Gewerkschaft und später der KPD.
Außerdem gehörte er dem „Verein für Volkssport“ (VfV) an. Er heiratete und gründete eine Familie, mit der er im Braunschweiger Arbeiterviertel Belfort lebte, wie viele andere Kommunisten und Sozialdemokraten. Am 30.06.1933 wollte die SA ihn zu Hause festnehmen und in die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) bringen, doch er war nicht am Ort.
Man hinterließ die Aufforderung, sich wegen eines Verhörs selbständig zur AOK zu begeben. Trotz Warnungen von Verwandten und Bekannten, die von den Folterungen im AOK-Gebäude gehört hatten, ging Liesegang der Aufforderung nach.
Die Gefangenen wurden am 4. Juli per Lastkraftwagen zum Pappelhof transportiert. Aufgrund von Zeugenaussage aus dem Jahre 1950 ergab sich, dass sich am Nachmittag des Tages außer den Gefangenen lediglich die beiden SS-Männer Meyer und Adler sowie das Hausmeister-Ehepaar mit deren Tochter auf dem Anwesen befanden.
Nach Aussage des Ehepaares wurden die Gefangenen noch über mehrere Stunden von den beiden SS-Männern aufs Schwerste misshandelt. Gegen 23 Uhr sei schließlich ein Personenkraftwagen auf den Hof gefahren, dem vier bis fünf Personen entstiegen, die die Gefangenen binnen kürzester Zeit erschossen. Einige Tage darauf wurden die Leichen auf dem Rieseberger Friedhof in ungekennzeichneten Gräbern verscharrt.
Zehn der Toten fanden hier ihre letzte Ruhestätte: „Hermann Behme, Willi Ludwig , Julius Bley, Walter Römling, Hans Grimminger, Gustav Schmidt, Kurt Heinemann (beigestzt in Schoeningen), Willi Steinfass, Reinhold Liesegang und Alfred Staats“. 1953 wurden die Leichen exhumiert und dabei fand man einen elften Toten, dessen Identität bis heute nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte.
Im Jahre 1933 erhielten die Angehörigen der Rieseberg-Opfer lediglich einen formlosen und die Tatsachen verschleiernden Bescheid über deren Verbleib. Erst 20 Jahre später folgte von der Regierung eine weitere Nachricht.
Die Ehefrauen der Ermordeten Römling und Liesegang konnten dem Druck nicht lange standhalten und flohen unter anderem aus Angst, man könne ihnen die Kinder wegnehmen mit diesen in die Sowjetunion, aus der sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Ost-Berlin übersiedelten.
Familie Heinemann traf es noch schlimmer, da der ermordete Kurt Heinemann Jude war. Seine Frau war Christin, zusammen hatten sie vier Kinder: zwei Jungen und zwei Mädchen. Die Jungen wurden 1941 im Alter von 12 und 13 Jahren, nach Auschwitz deportiert und vergast. Frau Heinemann und ihre Töchter überlebten den Krieg.
Wie viele Personen letztendlich die Morde verübt haben bzw. direkt oder indirekt an deren Planung und Ausführung beteiligt waren, ist nicht geklärt. So ist z. B. bis heute nicht bekannt, wer die vier bis fünf Personen waren, die dem Pkw entstiegen und die Morde ausgeführt haben.
Die mittelbare Beteiligung des NSDAP-Ministerpräsidenten und Innenministers des Freistaates Braunschweig Dietrich Klagges sowie des Justiz- und Finanzministers Friedrich Alpers ist jedoch erwiesen.
Bewiesen ist auch, dass folgende SS-Angehörige unmittelbar (auch bei den Misshandlungen im AOK-Gebäude) beteiligt waren:
Albert Adler
Peter Behrens (Sekretär Klagges)
Reinhard Krügel
Karl-Hermann Meyer
Paul Szustak
Mit Haftbefehl vom 16. April 1946 wurde nach den Verdächtigen gefahndet, 1950 leitete das Schwurgericht Braunschweig ein Verfahren gegen sie ein. Die überführten Täter wurden zu Haftstrafen zwischen vier und 25 Jahren verurteilt, zumeist aber schon nach kurzer Haft auf Bewährung entlassen. Klagges wurde wegen „Billigung“ der Morde zu einer Haftstrafe verurteilt.
Meyer, einer der Hauptbeteiligten, hatte sich dem Zugriff der Justizbehörden entzogen, indem er nach dem Krieg unter falschem Namen in Süddeutschland untertauchte, wo er erst 1996 aufgespürt werden konnte. Bevor das Verfahren gegen ihn eingeleitet werden konnte, verstarb er.
Quellen:
- Alfred Oehl: Der Massenmord in Rieseberg 1933. (Regionale Gewerkschaftsblätter; Bd. 20). 2. ergänzte Auflage. DGB, Braunschweig 2004
- Reinhard Bein: Im deutschen Land marschieren wir. Freistaat Braunschweig 1930–1945. 7. erw. Aufl. Doering, Braunschweig 1994
- Reinhard Bein: Zeitzeichen, Stadt und Land Braunschweig 1930-1945 Braunschweig 2000
- Robert Gehrke: Aus Braunschweigs dunkelsten Tagen. Der Riesenberger Massenmord, Braunschweig 1962
75 Jahre AOK in Braunschweig, herausgegeben von der AOK Braunschweig, bearbeitet von Norman-Mathias Pingel, Braunschweig 1989 - Gehrke (1961); Oehl (1981) Zum Gedenken an elf aufrechte Demokraten und Antifaschisten, die am 4. Juli 1933 in Rieseberg von Nazis ermordet wurden.
- Hans Reinowski: Terror in Braunschweig. Aus dem ersten Quartal der Hitlerherrschaft. Bericht herausgegeben von der Kommission zur Untersuchung der Lage der politischen Gefangenen. Verlag Sozialistische Arbeiter-Internationale, Zürich 1933
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