Umweltforscher Wilhelm Liesegang aus Ilfeld

Geboren wurde Wilhelm Liesegang als Sohn des Hotelbesitzers Emil Liesegang (1858-1929) und dessen Gattin Charlotte Pabst aus Lipprechterode (1870-1944) Dessen Vater Wilhelm Eduard (1810-1880) Schneidermeister in Ilfeld,  war der Bruder meines Ur Ur Ur Ur-Großvaters Friedrich August Liesegang, Gärtner in Ileld.

Wilhelm Liesegang hatte drei weitere Geschwister, von denen Walter (1899-1997) das Hotel vom Vater übernahm. Verheiratet war Wilhelm mit Ilse Kommritz (1902-1976) eine Tochter des Bankbeamten Emil Kommritz in Liebstadt (Ostpreussen) und der Elsbeth Stephani. Sein Sohn Dietrich (*1930-1989) war Dipl. Ing., Direktor beim Bundesumweltamt. Die komplette Ahnenreihe ist in der Datenbank nachzulesen.

Nach Abschluß seines Chemiestudiums promovierte Liesegang 1923 zum Dr. phil. und arbeitete dann als Assistent des Gewerbehygienikers und Toxikologen Karl Bernhard Lehmann in Würzburg. Ende 1924 beriefen ihn Max Beninde, der Präsident der 1901 gegründeten Preuß. Landesanstalt für Wasser-, Boden und Lufthygiene in Berlin-Dahlem, und Karl Thumm (1867–1936), der Leiter der Chemie-Abteilung, an diese Behörde, aus der später die Reichsanstalt für Wasser- und Lufthygiene hervorging.

Liesegang, der 1932 zum Professor ernannt wurde, war dort 1935-45 Direktor der Abteilung für Lufthygiene. Nach dem Kriege leitete er das Flußwasser-Untersuchungsamt in Hildesheim. Kurz vor seinem Tode im Aug. 1953, wurde er Referent für Allgemeine und Stadt-Hygiene beim Bundesgesundheitsamt in Koblenz. Liesegang grenzte die Arbeitsgebiete Raumluft und Freiluft als wesentliche Teilbereiche der Lufthygiene gegeneinander ab.

Nachdem schon seit Ende des 19. Jh. bekannt war, dass die Nadelhölzer am empfindlichsten gegen Rauchgase sind, untersuchte er 1925 die Fichte und kam dabei zu allgemeinen Erkenntnissen für die Beurteilung der Luftverunreinigung durch Rauchgase. Er stellte fest, dass nicht nur, wie bisher, Wasserreinigung und Abwasserbeseitigung betrieben, sondern auch die in die Luft geleiteten rauch- und gasförmigen Emissionen eingeschränkt werden müßten. Wichtige Einsichten gewann er aus der „Nebelkatastrophe“ (100 Tote) von 1930 im Maastal bei Lüttich, zu der es durch die Verbindung von Nebel mit schwefelsauren Zinkhütten-Abgasen gekommen war. Nach Liesegang hatte sich der Abgasbestandteil Schwefeldioxid mit schwebenden Nebeltropfen zu schwefliger Säure verbunden, die wegen der ungünstigen atmosphärischen Bedingungen (Inversion) eine hohe Konzentration erreichte. Liesegang beobachtete 1936 in Deutschland ähnliche Fälle (ohne katastrophale Folgen) und empfahl daher vorübergehende Produktionsbeschränkungen für Industriebetriebe mit großem Säureausstoß bei Nebelwetter.

Seit 1929/30 untersuchte Liesegang mit genauen Messungen („Glockenverfahren“) die Auswirkungen der rauch- und gasförmigen Emissionen von Industriebetrieben auf die Vegetation, wobei er auf Vorarbeiten von Hermann Ost (1852–1931) von 1907 sowie auf Forschungen von Max Bamberger (1861–1927) und Josef Nußbaum (1877–1955) aus dem Jahr 1927 aufbaute. Er fand, dass es zu Vegetationsschäden kam, wenn die durch das Meßgerät innerhalb von 100 Stunden aus der Luft entnommene Schwefelmenge 50 mg überschritt, und dass Werte von über 100 mg zum vollständigen Absterben der Vegetation („Rauchblößen“) führten.

Er empfahl, in der Umgebung von Industriebetrieben mit hoher Abgaserzeugung die Luft ständig auf ihren Schwefelgehalt zu untersuchen, und bemühte sich um die Festlegung von Richtwerten. Liesegang, der schon in seiner Würzburger Assistentenzeit den Gehalt an schwefliger Säure in frischgefallenem Schnee bestimmt hatte, veröffentlichte seit 1927 Untersuchungen über die atmosphärischen Niederschläge. Dabei war für ihn die Erkenntnis wichtig, dass die Niederschläge nicht nur feste Verunreinigungen mit sich führen, sondern auch einen Großteil der in der Atmosphäre befindlichen gasförmigen Stoffe in sich aufnehmen und zur Erde zurücktransportieren. Damit sprach Liesegang das Problem des – heute so genannten – „sauren Regens“ an. Als die Verschlechterung der Luft in den Großstädten zunahm, untersuchte Liesegang seit 1927 die Motorabgase und fand, dass die Automobil-Auspuffgase vor allem wegen ihres hohen Gehalts (5-9 %) an giftigem Kohlenmonoxid nicht nur – wie bisher meist angenommen – in geschlossenen Garagen und in Verkehrstunnels, sondern auch auf offenen Straßen und Plätzen mit starkem Verkehrsaufkommen zu einer gesundheitlichen Gefährdung von Personen führen können, die ihnen längere Zeit ausgesetzt sind. Liesegang, der systematisch Vergiftungsfälle durch Automobilabgase registrierte, wies 1929 darauf hin, dass die Giftigkeit der Gase durch Änderungen an Motor und Vergaser sowie durch Wahl und Vorbehandlung des Treibstoffs vermindert werden kann.

Seine Erkenntnisse wurden jedoch nicht beachtet, und durch die Beigabe von Bleitetraethyl als Antiklopfmittel verschlimmerte sich die Situation. Liesegang erkannte, dass durch solche Treibstoffbeigaben (die in den USA zu Anfang des Jahrhunderts verboten, 1923 aber wieder zugelassen worden waren) resorbierbare Bleiverbindungen in die Luft und in den Straßenstaub gelangen, wodurch die Gefahr von Bleivergiftungen entsteht. Liesegang beschäftigte sich auch mit der Bestimmung des Staubgehalts der Luft. Seit 1932 errichtete er in Essen, Dortmund, Berlin und Müncheberg b. Frankfurt/Oder Stationen zur Messung des Staubniederschlags, 1934 auch eine Station in Hürth b. Köln, wo kurz zuvor das Goldenberg-Großkraftwerk in Betrieb genommen worden war. Er ermittelte, dass in der Nähe eines solchen Kraftwerks zehnmal so hohe Staubkonzentrationen auftraten wie im Ruhrgebiet.

Liesegang untersuchte vor allem den Staubauswurf von Zementöfen, dessentwegen schon früh langwierige Prozesse geführt worden waren und der mit dem Anwachsen der Zementerzeugung und ihrer Konzentration in großen Werken zunahm. Für seine Untersuchungen setzte er eigens entwickelte Meßgeräte ein und verwendete Auffangbehälter, die monatsweise das Regenwasser sammelten, das er dann auf seinen Gehalt an gelösten und ungelösten Stoffen untersuchte. Bei Schachtofenanlagen von Zementwerken fand Liesegang im Staubauswurf feinverteilte Alkalisulfate, die für den in großen Mengen entstehenden Wasserdampf Kondensationskerne liefern. Auf diese Weise bilden sich in der Umgebung der Werke giftige Nebel, die bei ungünstigen Wetter- und Geländeverhältnissen nicht abziehen können. Liesegang glaubte, durch technische Veränderungen an den Öfen könne der Staubauswurf verringert werden.

Die Zementindustrie setzte seit 1920 Staubfilter ein, aber erst 1939 beauftragte das Reichswirtschaftsministerium Liesegang mit der Ermittlung von Grenzwerten des „ortsüblichen“ Staubauswurfs, wozu es aber nicht mehr kam. Allerdings gab Liesegang 1941 Anhaltszahlen für die Ortsüblichkeit (nach der Definition des BGB) an und stellte Unterlagen für die Aufsichtsbeamten und Richtlinien für die Formulierung von Genehmigungsbedingungen zusammen. Liesegang war der erste systematische Erforscher aller Fragen der Luftverunreinigung in Deutschland. Im Zusammenhang mit zahlreichen von ihm erstellten Gutachten bemühte er sich um die Festlegung von Grenzund Richtwerten. Er verwarf den Standpunkt, dass „an Stellen, an denen nichts mehr verdorben werden kann, die Verhältnisse weiter verschlechtert werden dürfen“. Während des Krieges und in den Jahren des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach 1945 gerieten seine Erkenntnisse in Vergessenheit. Erst in den 60er und 70er Jahren rückten sie im Zusammenhang mit der sich verstärkenden Umweltschutz-Diskussion in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

Literatur:

Hans Christoph Graf von Seherr-Thoß, „Liesegang, Wilhelm“, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 538-540 [Onlinefassung]; URL:
http://www.deutsche-biographie.de/artikelNDB_pnd137847750.html
Gesundheits-Ing. 74, 1953, H. 21/22, S. 379 (P); Pogg. VII a.