Familiäre Herkunft des Anthropologen Gustav Schwalbe (1844-1916)

Mit Schwalbe bringt man den Neanderschädel in Verbindung

Portrait SchwalbeGustav Schwalbe wurde am 1.8.1844 in Quedlinburg geboren. Sein Vater, der Arzt Gustav Ferdinand, verstarb als Gustav Albert gerade mal zwei Jahre alt war. Kaum hatte die Familie diesen Schicksalsschlag überwunden, geschah das nächste Unglück. Ein Brand am 18.3.1849 brachte die Familie fast um die gesamte Habe. So kam die Familie bei Caroline Schwalbe, der Schwester des Verstorbenen unter.

Nach der Schulzeit entschied sich Schwalbe ein Medizinstudium aufzunehmen und so verbrachte er sein erstes Semester (Winter 1862/63) in Berlin, wo sein Bruder Bernhard Naturwissenschaften studierte. Im Sommer 1863 wechselte er nach Zürich und im Winter 1863/64 nach Bonn, wo er bis 1865 blieb. Vom Sommer 1865 bis zum April 1867 war er wieder in Berlin und wohnte dort mit seiner Mutter in der Möckernstrasse bei seinem Bruder Bernhard. Dieser war zu diesem Zeitpunkt ordentlicher Lehrer am königlichen Realgymnasium.

Zu jener Zeit lehrte Virchow an der Charité, ob er und Schwalbe sich je begegneten, ist leider nicht bekannt. Rudolf Virchow (1821-1902) war ein äußerst bekannter und einflussreicher Mediziner. Sein politisches Interesse war ebenfalls sehr groß.  Im Jahre 1861 war er der Mitbegründer der „Deutschen Fortschrittspartei“. Auch für Archäologie interessierte Virchow sich sehr und so begleitete er Schliemann zu dessen Troja-Expedition in die Türkei.

Virchow um 1893

Virchow war der Gründer der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“. Schwalbe trat Virchow in der Neandertaler-Frage entgegen. Diesen hatte Virchow mit den Augen der Pathologie (seinem angestammten Fachgebiet) betrachtet. Virchow lehnte den Neadertaler aus zwei Gründen als Typus ab:

Zum Einen weil er meinte, er weise zu viele Pathologien auf und zum anderen, weil er der Auffassung war, man könne einen Typus nicht aufgrund eines einzigen Individuums beschreiben. Dies ist die  aufgeweichte Ansicht zu dem Fund, denn zu Anfang sah er die gesamte Formgebung des Schädels als pathologisch an.

Am 25.5.1866 promovierte Schwalbe an der Universität in Berlin mit einer Arbeit über die kontraktilen Vakuolen der „Infusorien“ (Die „Infusorien“ oder „Aufgusstierchen“ sind eine heute obsolete Bezeichnung für verschiedene Kleinstlebenwesen wie Amöben, Flagellaten usw. Der Begriff ist in der Aquaristik für diese dort als Futter benutzten Tiere noch üblich)

In dieser Zeit erwog Schwalbe Schiffsarzt zu werden um fremde Länder und Völker zu erkunden, so wie es sein Bruder Carl getan hatte. Es ist anzunehmen, dass die Biografie seines Bruders Einfluss auf die Gedanken Gustavs gehabt haben könnte. Dieser nahm 1866 als Unterarzt am Deutschen Krieg teil, war längere Zeit im Lazarett in Reichenberg (heute: Liberec) tätig und nach dem Krieg absolvierte er im Winter 1866/67 sein Staatsexamen. Anschließend beendete er seinen Militärdienst von Mai 1867 bis März 1868 bei den Königshusaren in Bonn. Direkt im Anschluss folgte seine Zeit als Assistenzarzt in Amsterdam bei „Kühne“ im physiologischen Institut.

Seine ersten Entdeckungen waren die Sinnesorgane des Geschmacks, welche er „Schmeckbecher“ nannte. Nachdem er sich mit Muskelzellen und den Geschmackssinneszellen auseinandergesetzt hatte, wandte er sich einer anderen Art der Zelle zu: den Lymphzellen. Schwalbe wies bestimmte Spalträume am Auge als Lymphbahnen aus und bewies deren Zusammenhang mit anderen Lymphräumen.

Von 1870 habilitierte Schwalbe an der Universität Halle, denn dort war zu jener Zeit als Privatdozent in Anatomie tätig. Seine Karriere wurde durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges unterbrochen und so ging er nach Quedlinburg und zog mit dem ansässigen 7. Kürassier-Regiment als Assistenzarzt in den Krieg. Schwalbe schrieb zahlreiche Feldbriefe an seine Familie, der letzte ist auf den 12.4.1871 datiert.

Nach dem Kriegsende war Schwalbe im Sommersemester 1871 Prosektor in Freiburg und dabei entstand der Beitrag über die Drüsen der „Darmwandungen“. Im Oktober 1873 trat er seine neue Stelle als ordentlicher Professor und Direktor der Anatomie in Jena an. Dort lernte er auch Ernst Heinrich Philipp August Haeckel (16.2.1834-9.8.1919) kennen, der einen entscheidenden Einfluss auf seine akademische Entwicklung hatte, denn Haeckel beschäftigte sich mit der Frage des Ursprungs des Menschen. Er war Zoologe, Philosoph und Freidenker, der die Arbeiten von Charles Darwin in Deutschland bekannt machte und zu einer Abstammungslehre ausbaute.

1883 kam Schwalbe als ordentlicher Professor nach Straßburg, wo er als Direktor des anatomischen Institut seinen Kollegen Heinrich Waldeyer-Hartz (1836-1921), deutscher Anatom und mehrfach im Vorstand der DGAEU ablöste. (Waldeyer-Hartz siehe Datenbank) Die Kaiser-Wilhelm Universität wurde 1872 gegründet. Gustav Schwalbe wohnte in der Artilleriewallstr. 2, direkt in der Nachbarschaft des Instituts. Hier lebte er viele Jahre bis er sich 1897 ein stattliches Haus im „deutschen Viertel“ kaufte. Dieses Haus in der „avenue de la Forét Noire“ beherbergt jetzt das „institut du travail“ (Arbeitsinstitut) der Universität.

In Straßburg widmete Schwalbe sich immer mehr anthropologischen Themen, vielleicht wegen der Schädelsammlung in Straßburg. Als er 1893 für ein Jahr zum Rektor der Universität gewählt wurde, sprach er in seiner Antrittsrede über die Probleme der physischen Anthropologie. In Straßburg fand er ein anatomisches Museum dessen Ursprung ins 17. Jahrhundert reicht, als 1670 ein anatomisches Theater in einer alten Kapelle eingerichtet wurde. Die dort öffentlich stattfindenden Sezierungen, ein Spektakel, das es in einigen Städten gab und großen Andrang erfuhr, legten die Grundlage für das Museum und deren Sammlung.

Zu seinem siebzigsten Geburtstag (1.8.1914) war ein großes Fest geplant. Nach dem Attentat auf den österreich-ungarischen Thronerben und seiner Ehefrau (28.6.) warf der Erste Weltkrieg jedoch schon seinen Schatten voraus. Am 31.7. wurde der Belagerungszustand ausgerufen und nur wenige Zivilisten durften in Straßburg bleiben. Bevor sie am nächsten Tag, dem 1.8.1914, Schwalbes Geburtstag und Tag der Kriegserklärung gegen Russland, die Stadt verließen, fand noch am Vormittag eine Feier statt. Die Glückwunschfeier wurde in der Zeitung abgedruckt und ihm zu Ehren wurde eine Festschrift überreicht.

Am 1. August war Russland der Krieg nach dessen Mobilmachung am 30. Juli erklärt worden. Frankreich wurde der Krieg am 3. August erklärt. Wobei jedoch die ersten  Kriegstoten sowohl von Frankreich und dem Deutschen Reich bereits am  Vortag, dem 2. August, fielen nach einer Aufklärungsmission Deutscher Truppen in Frankreich bei Joncherey.

Der Erste Weltkrieg führte in wissenschaftlichen Kreisen zu einem erhöhten Nationalismus, was sich besonders bei Schwalbes Neffen Ernst extrem ausdrückte. Ein weiteres Beispiel sind die scharfen Töne gegen England von Haeckel. Anderthalb Jahre nach dem Ausbruch des Krieges starb Schwalbe ganz überraschend im April 1916. Am Nachmittag des 22.4. befiel ihn schwere Atemnot und am Morgen des 23.4. erlag er einer Herzschwäche. Drei Tage später wurde Gustav Schwalbe um 12 Uhr in Baden-Baden eingeäschert. Seine trauernde Frau Clara starb wenige Monate später am 8.1.1917 in Halle. Sie wurde am 11.1. in Leipzig eingeäschert und wie ihr Gatte auf dem Urnenhain in Baden-Baden beigesetzt.

Mein Interesse wurde bereits vor Jahren geweckt, denn unter den Vorfahren Schwalbes ist auch die Familie Liesegang zu finden. Urgroßvater Christian Georg der Jüngere (1.2.1730-12.2.1800) war verheiratet mit Rebekka Christiane Schmidt (30.9..1746-30.1.1774) deren Vater Kaspar Gerhard (1702-1773) war Brauherr und Rotgerber in Quedlinburg und hatte Sophie Catharina Liesegang zur Frau (1714-1798) Die Liesegangs besaßen die Rotgerberei auf der Pölle in Quedlinburg und sie stammten aus Nordhausen. Zu diesem Zweig der Familie gehört ebenfalls der Osteroder Generalsuperintendent Johann Liesegang, der 1616 in Quedlinburg zur Welt kam. Leider ist die Ahnenreihe Liesegang nach wie vor sehr lückenhaft, aber ich hoffe nach wie vor auf zusätzliche Informationen die mich weiterbringen.

Von Gustav Schwalbe gibt es unzählige Publikationen, sie wurden von Mollison in der kurzen Biografie im Buch „Mitteldeutsche Lebensbilder“ 1926 aufgeführt. Seine bekannteste Arbeit war die zum „Neandertaler“. Dieser Beitrag erschien 1901 in den Bonner Jahrbüchern. Er hatte sich jedoch schon jahrelang vorher mit diesem Thema beschäftigt und verteidigte seine Ansichten zum Neandertaler in zahlreichen Publikationen.

Auszug seiner Werke

Lehrbuch der Neurologie, Band 2, 1881
Über die Kaliberverhältnisse der Nervenfasern 1882
Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane 1886
Über die Entstehung des Haarkleides bei den Säugetieren, 1895
Zur Anthropologie der nordamerikanischen Indianer, 1897
Über die Schädelformen der ältesten Menschenrassen mit besonderer Berücksichtigung des Schädels von Egisheim, 1897
Studien über Pithecantropus Erectus 1899
Über die spezifischen Merkmale des Neanderthalerschädels, 1901
Der Neander Schädel 1901
Der Schädel von Egisheim, 1901
Neanderthalerschädel und Friesenschädel, 1902
Zur Topographie des Kleinhirns, 1902
Über die Vorgeschichte des Menschen 1903
Die Stellung des Menschen im Zoologischen System, 1904
Die Hautfarbe des Menschen, 1904
Über Ballen, Linien und Leisten der Hand
Über Zwergrassen-Pygmäen und ihre Beziehungen zur Vorgeschichte des Menschen, 1905
Deszendenzlehre und Anthropologie, 1905
Das Schädelfragment von Canstatt, 1906
Der Schädel von Nowosiólka, 1908
Über fossile Primaten und ihre Bedeutung für die Vorgeschichte des Menschen, 1909
Beiträge zur Kenntnis des menschlichen Magens, 1912
Über einen bei Ehringsdorf in der Nähe von Weimar gemachten Fund des Urmenschen, 1914
Die Abstammung des Menschen und die ältesten Menschenformen, 1923

Kurzvorstellungen einiger Familienmitglieder

Ahnherr Jacob Schwalbe, Schneidermeister (24.9.1606-2.12.1679)
Georgius Schwalbe, Hof-Diakon in Quedlinburg (16.8.1651-7.7.1710)
Johannes Prätorius, Rektor des Gymnasiums (23.5.1594-7.11.1682)
Christian Georg Schwalbe, fürstlicher Leibarzt und ab 1726 Bürgermeister der Altstadt (25.2.1691-15.8.1761)
Johann Christian Polycarp Erxleben, Professor in Göttingen (22.6.1744-18.8.1777)
Dorothea Christiane Leporin, Tochter des Arztes und Schriftstellers Christian Polycarp Leporin (13.11.1715-13.7.1762)
Clara Sophie Elisabeth Heine, Tochter des Professors der Mathematik in Halle Heinrich Eduard Simon Heine (8.12.1852-8.1.1917)
Anselma Tony Feodor Heine, Schriftstellerin und Dichterin (18.6.1855-9.11.1930)

Es fällt auf, dass im familiären Umfeld besonders viele Gelehrte und insbesondere Ärzte zu finden sind. Damit gehört die Familie Schwalbe ganz sicher zum Quedlinburger Bildungsbürgertum. Einzelheiten findet ihr wie immer in der Datenbank.

stammbaum schwalbe

Abschließend möchte ich mich bei Pierre Louis Blanchard für die Erlaubnis bedanken,  Auszüge zum Leben Schwalbes aus seiner unten genannten Hausarbeit hier vorstellen zu dürfen.

Quelle:

  • Blanchard, Pierre Louis, Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades eines Magister Artium, vorgelegt dem Fachbereich für Sozialwissenschaften an der Johannes Gutenberg Universität Mainz 2009
  • Deutsches Geschlechterbuch, Band 100, Seite 289-300, C. A. Starke Verlag, 65549 Limburg an der Lahn
  • Theodor Mollison: Gustav Albert Schwalbe, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, 1. Band Lebensbilder des 19. Jahrhunderts, Magdeburg 1926, S. 397-411

Literatur: