Verwandtschaft selbst gebastelt

Elisabeth Timm untersucht Familienforschung seit dem 19. Jahrhundert:

Das Hobby so mancher Pensionisten, die sich als Ahnenforscher versuchen und in der Hoffnung auf eine adelige Herkunft Archive durchforsten, interpretiert Elisabeth Timm als genealogischen Raum und Traum der Moderne: Schon Sigmund Freud hat das Phänomen 1909 als Fantasie von „höheren Eltern“ beschrieben. Die Assistentin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien untersucht für ihre Habilitation Perspektiven der Genealogie vom 19. Jahrhundert bis zu Familienforschern heute. Anhand von historischen Quellen (Vereine, Gesellschaften) und ethnografischen Methoden dokumentiert die Kulturanthropologin, wie Beziehungen vorgefunden und erfunden werden: „Mich interessiert, wer sich warum für die Rekonstruktion von Familie und Verwandtschaft interessiert. Lange wurde genealogisches Interesse als Wiederverortung nach Entwurzelungen oder als Erbe rassistischer Blutsideologien interpretiert.

Diese Deutung bildet meines Erachtens aber nur den geringsten Teil der Dynamik ab“, sagt die 41-jährige gebürtige Deutsche, die empirische Kulturwissenschaft und Ethnologie in Tübingen studierte und 2004 an die Uni Wien kam. Auffallend ist für sie, dass Verbindungen heutzutage erst in die Geschichte und dann konkret in die Gegenwart hergestellt werden: „In der populären Genealogie werden aufgrund der Recherche als verwandt definierte, vorher unbekannte Personen persönlich kontaktiert. Das ist eine bisher nicht beschriebene eigene Form von Verwandtschaft. “ Diese Suche ist im Übrigen, so ein weiteres Ergebnis, nicht mehr von tradierten symbolischen Ordnungen (zum Beispiel Geschlecht oder sozialer Status wie etwa adelige Herkunft) geprägt.

Mit Verwandtschaft beschäftigt sich auch das von Timm geleitete Projekt „Doing kinship“, das vom Wiener Wissenschafts- , Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) finanziert und in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst und dem Volkskundemuseum durchgeführt wird. Das Team hat bereits mit der Feldforschung in Wien begonnen. Dinge und Bilder, mit denen verwandtschaftliche Beziehungen hergestellt werden, sind Gegenstand der Analyse – und zwar vor allem bisher wenig untersuchte „transitorische Objekte“ wie etwa digitale Fotos und Videos, die online verbreitet werden: „Hier entstehen neue Genres und Praktiken des Sich verbindens; umgekehrt bringt der Wandel verwandtschaftlicher Lebensformen neue ästhetische Formen hervor.“

Von der Stadt Wien wurde sie für diese Idee 2009 mit dem „Sonderpreis für innovative ForscherInnen“ und als Forscherin des Jahres ausgezeichnet. Damit habe die oft ins Feuilleton verbannte Sozial- und Kulturanalyse auch einen Platz neben den Naturwissenschaften bekommen, meint Timm. Von Oktober 2009 bis Jänner 2010 war sie als Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien tätig und nutzte dort „kostbaren Freiraum für interdisziplinäre Inspiration und Forschung, wozu an der Uni heute insbesondere aufgrund der Intensivierung und Fehlorganisation der Lehre nach den Bologna-Reformen kaum noch Zeit vorhanden ist“.

Quelle:

(Astrid Kuffner/DER STANDARD, Printausgabe 14.04.2010) Webseite:

Webtipp: www.wwtf.at