Phantasie und Buchstabenmalerei des Mittelalters

Im Volk ist der Glaube an die Bedeutung und Kraft des Wortes lebendig. Es weiß was es bedeutet, wenn jemand die rechten Worte findet. Es weiß, dass das echte Wort ins Gehör eindringt, ihn in seinen Bann zieht und eine entscheidende Wirkung auf ihn auszuüben vermag. Es weiß umgekehrt, dass ein Mensch, der das rechte Wort nicht nennen mag, Worte macht und um die Sache herumredet.

In der Regel sind die germanischen Buchstaben so geformt, dass sie das schnelle Lesen nicht erschweren, aber für die Germanen war auch der Ursinn des Wortes wichtig, Linien und Farben gegenwärtig – Intellekt und Gefühl gehörten zusammen. Für den damaligen Menschen war das Rot erregend, das Rosa lieblich, das gelb strahlend, das grün hoffnungsfreudig, das Blau sehnsuchterweckend. Und wie die Worte im frühen Mittelalter für die Menschen lebendige Offenbarungen waren, so auch die aus Linien und Farben zusammengesetzten Buchstaben. Schriftzeichen wurden zu Kunstformen..

Hillinus Evangeliar

 

Quelle:

Schardt, Alois (1889-1916) : Das Initial: Phantasie und Buchstabenmalerei des frühen Mittelalters, mit 106 Abbildungen und 4 farbigen Tafeln, Berlin: Rembrandt-Verlag, 1938